Erinna an Sappho (Eduard Mörike)
"Vielfach sind zum Hades die Pfade", heisst ein
Altes Liedchen - "und einen gehst du selber,
Zweifle nicht!" Wer, suesseste Sappho, zweifelt?
Sagt es nicht jeglicher Tag?
Doch den Lebenden haftet nur leicht im Busen
Solch ein Wort, und dem Meer anwohnend ein Fischer von Kind auf
Hoert im stumpferen Ohr der Wogen Geraeusch nicht mehr.
- Wundersam aber erschrak mir heute das Herz. Vernimm!
Sonniger Morgenglanz im Garten,
Ergossen um der Baeume Wipfel,
Lockte die Langschlaeferin (denn so schaltest du juengst Erinna!)
Frueh vom schwueligen Lager hinweg.
Stille war mein Gemuet; in den Adern aber
Unstet klopfte das Blut bei der Wangen Blaesse.
Als ich am Putztisch jetzo die Flechten loes'te,
Dann mit nardeduftendem Kamm vor der Stirn den Haar-
Schleier teilte, - seltsam betraf mich im Spiegel Blick in Blick.
Augen, sagt ich, ihr Augen, was wollt ihr?
Du, mein Geist, heute noch sicher behaus't da drinne,
Lebendigen Sinnen traulich vermaehlt,
Wie mit fremdendem Ernst, laechelnd halb, ein Daemon,
Nickst du mich an, Tod weissagend!
- Ha, da mit eins durchzuckt' es mich
Wie Wetterschein! wie wenn schwarzgefiedert ein toedlicher Pfeil
Streifte die Schlaefe hart vorbei,
Dass ich, die Haende gedeckt aufs Antlitz, lange
Staunend blieb, in die nachtschaurige Kluft schwindelnd hinab.
Und dort blinkte vom Tisch das, schoene Kopfnetz, dein Geschenk,
Koestliches Byssosgeweb, von goldnen Bienlein schwaermend.
Dieses, wenn wir demnaechst das blumige Fest
Feiern der herrlichen Tochter Demeters,
Moecht ich _ihr_ weihn, fuer meinen Teil und deinen;
Dass sie hold uns bleibe (denn viel vermag sie),
Dass du zu frueh dir nicht die braune Locke moegest
Fuer Erinna vom lieben Haupte trennen.