Johann Wolfgang von Goethe

Vermächtnis (Johann Wolfgang von Goethe)

       

Kein Wesen kann zu nichts zerfallen!

Das Ewge regt sich fort in allen,

Am Sein erhalte dich beglückt!

Das Sein ist ewig: denn Gesetze

Bewahren die lebendgen Schätze,

Aus welchen sich das All geschmückt.

Das Wahre war schon längst gefunden,

Hat edle Geisterschaft verbunden;

Das alte Wahre, faß es an!

Verdank es, Erdensohn, dem Weisen,

Der ihr, die Sonne zu umkreisen,

Und dem Geschwister wies die Bahn,

Sofort nun wende dich nach innen:

Das Zentrum findest du da drinnen,

Woran kein Edler zweifeln mag.

Wirst keine Regel da vermissen:

Denn das selbständige Gewissen

Ist Sonne deinem Sittentag.

Den Sinnen hast du dann zu trauen,

Kein Falsches lassen sie dich schauen,

Wenn dein Verstand dich wach erhält.

Mit frischem Blick bemerke freudig

Und wandle sicher wie geschmeidig,

Durch Auen reichbegabter Welt.

Genieße mäßig Füll und Segen;

Vernunft sei überall zugegen,

Wo Leben sich des Lebens freut.

Dann ist Vergangenheit beständig,

Das Künftige voraus lebendige

Der Augenblick ist Ewigkeit.

Und wie von alters her, im stillen,

Ein Liebewerk nach eignem Willen

Der Philosoph, der Dichter schuf,

So wirst du schönste Gunst erzielen:

Denn edlen Seelen vorzufühlen

Ist wünschenswertester Beruf.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering