Johann Wolfgang von Goethe

Urworte, orphisch (Johann Wolfgang von Goethe)

DAIMWN, Dämon

       

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,

So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt

Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

 

TUCH, das Zufällige

       

Die strenge Grenze doch umgeht gefällig

Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt;

Nicht einsam bleibst du, bildest dich gesellig,

Und handelst wohl so, wie ein andrer handelt:

Im Leben ists bald hin-, bald widerfällig,

Es ist ein Tand und wird so durchgetandelt.

Schon hat sich still der Jahre Kreis geründet,

Die Lampe harrt der Flamme, die entzündet.

 

ERWS, Liebe

       

Die bleibt nicht aus! – Er stürzt vom Himmel nieder,

Wohin er sich aus alter Öde schwang,

Er schwebt heran auf luftigem Gefieder

Um Stirn und Brust den Frühlingstag entlang,

Scheint jetzt zu fliehn, vom Fliehen kehrt er wieder:

Da wird ein Wohl im Weh, so süß und bang.

Gar manches Herz verschwebt im Allgemeinen,

Doch widmet sich das edelste dem Einen.

 

ANAGKH, Nötigung

       

Doch solcher Grenze, solcher ehrnen Mauer

Höchst widerwärtge Pforte wird entriegelt,

Sie stehe nur mit alter Felsendauer!

Ein Wesen regt sich leicht und ungezügelt:

Aus Wolkendecke, Nebel, Regenschauer

Erhebt sie uns, mit ihr, durch sie beflügelt,

Ihr kennt sie wohl, sie schwärmt durch alle Zonen –

Ein Flügelschlag – und hinter uns Äonen!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering