Johann Wolfgang von Goethe

Philine (Johann Wolfgang von Goethe)

       

Singet nicht in Trauertönen

Von der Einsamkeit der Nacht;

Nein, sie ist, o holde Schönen,

Zur Geselligkeit gemacht.

Wie das Weib dem Mann gegeben

Als die schönste Hälfte war,

Ist die Nacht das halbe Leben,

Und die schönste Hälfte zwar.

Könnt ihr euch des Tages freuen,

Der nur Freuden unterbricht?

Er ist gut, sich zu zerstreuen,

Zu was anderm taugt er nicht.

Aber wenn in nächtger Stunde

Süßer Lampe Dämmrung fließt,

Und vom Mund zum nahen Munde

Scherz und Liebe sich ergießt;

Wenn der rasche lose Knabe,

Der sonst wild und feurig eilt,

Oft bei einer kleinen Gabe

Unter leichten Spielen weilt;

Wenn die Nachtigall Verliebten

Liebevoll ein Liedchen singt,

Das Gefangnen und Betrübten

Nur wie Ach und Wehe klingt:

Darum an dem langen Tage

Merke dir es, liebe Brust:

Jeder Tag hat seine Plage,

Und die Nacht hat ihre Lust.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering