Johann Wolfgang von Goethe

Paria (Johann Wolfgang von Goethe)

Des Paria Gebet

       

Großer Brahma, Herr der Mächte!

Alles ist von deinem Samen,

Und so bist du der Gerechte!

Hast du denn allein die Brahmen,

Nur die Rajahs und die Reichen,

Hast du sie allein geschaffen?

Oder bist auch dus, der Affen

Werden ließ und unsresgleichen?

Edel sind wir nicht zu nennen:

Denn das Schlechte, das gehört uns,

Und was andre tödlich kennen,

Das alleine, das vermehrt uns.

Mag dies für die Menschen gelten,

Mögen sie uns doch verachten;

Aber du, du sollst uns achten,

Denn du könntest alle schelten.

Also, Herr, nach diesem Flehen,

Segne mich zu deinem Kinde;

Oder eines laß entstehen,

Das auch mich mit dir verbinde!

Denn du hast den Bajaderen

Eine Göttin selbst erhoben;

Auch wir andern, dich zu loben,

Wollen solch ein Wunder hören.

 

Legende

                 

Wasser holen geht die reine

Schöne Frau des hohen Brahmen,

Des verehrten, fehlerlosen,

Ernstester Gerechtigkeit.

Täglich von dem heiligen Flusse

Holt sie köstlichstes Erquicken –

Aber wo ist Krug und Eimer?

Sie bedarf desselben nicht.

Seligem Herzen, frommen Händen

Ballt sich die bewegte Welle

Herrlich zu kristallner Kugel;

Diese trägt sie, frohen Busens,

Reiner Sitte, holden Wandels,

Vor den Gatten in das Haus.

Heute kommt die morgendliche

Im Gebet zu Ganges' Fluten,

Beugt sich zu der klaren Fläche –

Plötzlich überraschend spiegelt,

Aus des höchsten Himmels Breiten

Über ihr vorübereilend,

Allerlieblichste Gestalt

Hehren Jünglings, den des Gottes

Uranfänglich seines Denken

Aus dem ewgen Busen schuf.

Solchen schauend, fühlt ergriffen

Von verwirrenden Gefühlen

Sie das innere tiefste Leben,

Will verharren in dem Anschaun,

Weist es weg, da kehrt es wieder,

Und verworren strebt sie flutwärts,

Mit unsichrer Hand zu schöpfen;

Aber ach! sie schöpft nicht mehr!

Denn des Wassers heilige Welle

Scheint zu fliehn, sich zu entfernen.

Sie erblickt nur hohler Wirbel

Grause Tiefen unter sich.

Arme sinken, Tritte straucheln,

Ists denn auch der Pfad nach Hause?

Soll sie zaudern? soll sie fliehen?

Will sie denken, wo Gedanke,

Rat und Hilfe gleich versagt? –

Und so tritt sie vor den Gatten;

Er erblickt sie, Blick ist Urteil,

Hohen Sinns ergreift das Schwert er,

Schleppt sie zu dem Totenhügel,

Wo Verbrecher büßend bluten.

Wüßte sie zu widerstreben?

Wüßte sie sich zu entschuldigen,

Schuldig, keiner Schuld bewußt?

Und er kehrt mit blutigem Schwerte

Sinnend zu der stillen Wohnung;

Da entgegnet ihm der Sohn:

»Wessen Blut ists? Vater! Vater!« –

Der Verbrecherin! – »Mitnichten!

Denn es starret nicht am Schwerte

Wie verbrecherische Tropfen,

Fließt wie aus der Wunde frisch.

Mutter! Mutter! tritt heraus her!

Ungerecht war nie der Vater,

Sage, was er jetzt verübt.«

Schweige! Schweige! 's ist das ihre!

»Wessen ist es?« – Schweige, Schweige!

»Wäre meiner Mutter Blut!!!

Was geschehen? was verschuldet?

Her das Schwert! ergriffen hab ichs;

Deine Gattin magst du töten,

Aber meine Mutter nicht!

In die Flamme folgt die Gattin

Ihrem einzig Angetrauten,

Seiner einzig teuren Mutter

In das Schwert der treue Sohn.«

Halt, o halte! rief der Vater,

Noch ist Raum, enteil, enteile!

Füge Haupt dem Rumpfe wieder,

Du berührest mit dem Schwerte,

Und lebendig folgt sie dir.

Eilend, atemlos, erblickt er

Staunend zweier Frauen Körper

Überkreuzt, und so die Häupter –

Welch Entsetzen! welche Wahl!

Dann der Mutter Haupt erfaßt er,

Küßt es nicht, das tot erblaßte;

Auf des nächsten Rumpfes Lücke

Setzt ers eilig, mit dem Schwerte

Segnet er das fromme Werk.

Aufersteht ein Riesenbildnis. –

Von der Mutter teuren Lippen,

Göttlich-unverändert-süßen,

Tönt das grausenvolle Wort.

Sohn, o Sohn! welch Übereilen!

Deiner Mutter Leichnam dorten,

Neben ihm das freche Haupt

Der Verbrecherin, des Opfers

Waltender Gerechtigkeit!

Mich nun hast du ihrem Körper

Eingeimpft auf ewige Tage:

Weisen Willens, milden Handelns

Werd ich unter Göttern sein;

Ja, des Himmelsknaben Bildnis

Webt so schön vor Stirn und Auge –

Senkt sichs in das Herz hinunter,

Regt es tolle Wutbegier.

Immer wird es wiederkehren,

Immer steigen, immer sinken,

Sich verdüstern, sich verklären,

So hat Brahma dies gewollt.

Er gebot ja buntem Fittich,

Klarem Antlitz, schlanken Gliedern

Göttlich-einzigem Erscheinen

Mich zu prüfen, zu verführen;

Denn von oben kommt Verführung,

Wenns den Göttern so beliebt.

Und so soll ich, die Brahmane,

Mit dem Haupt im Himmel weilend,

Fühlen, Paria, dieser Erde

Niederziehende Gewalt.

Sohn, ich sende dich dem Vater!

Tröste! – Nicht ein traurig Büßen,

Stumpfes Harren, stolz Verdienen

Halt euch in der Wildnis fest;

Wandert aus durch alle Welten,

Wandelt hin durch alle Zeiten

Und verkündet auch Geringstem:

Daß ihn Brahma droben hört!

Ihm ist keiner der Geringste –

Wer sich mit gelähmten Gliedern,

Sich mit wild zerstörtem Geiste,

Düster, ohne Hilf und Rettung,

Sei er Brahme, sei er Paria,

Mit dem Blick nach oben kehrt,

Wirds empfangen, wirds erfahren:

Dort erglühen tausend Augen,

Ruhen lauschend tausend Ohren,

Denen nichts verborgen bleibt.

Heb ich mich zu seinem Throne,

Schaut er mich, die Grausenhafte,

Die er gräßlich umgeschaffen,

Muß er ewig mich bejammern,

Euch zugute komme das.

Und ich werd ihn freundlich mahnen,

Und ich werd ihm wütend sagen,

Wie es mir der Sinn gebietet,

Wie es mir im Busen schwellet.

Was ich denke, was ich fühle –

Ein Geheimnis bleibe das.

 

Dank des Paria

         

Großer Brahma! nun erkenn ich,

Daß du Schöpfer bist der Welten!

Dich als meinen Herrscher nenn ich,

Denn du lässest alle gelten.

Wendet euch zu dieser Frauen,

Die der Schmerz zur Göttin wandelt!

Nun beharr ich, anzuschauen

Den, der einzig wirkt und handelt.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering