Der Rebensproß (Johann Heinrich Voss)
Fruchtschwer an
Lesbos'1) sonnigen
Höhn erwuchs
Ein hehrer Weinstock, welcher Ambrosia,
Voll Hochgefühls und Hochgesanges,
Zeitigte, durch
Dionysos2) Obhut,
Der rohen Tiersinn zähmte zu Menschlichkeit.
Anstaunenswürdig, mitten im Tempelhain,
Dichtlaubig, schwer von reifem Purpur,
Stand der ambrosische Lebensweinbaum.
Hier trank Arion3)
schmelzenden Zauberhall,
Mit Nymph und Satyr schwärmend im Hain; es trank
Sturmlauten Freiheitsschwung Alkäos,
Brautmelodien die entzückte Sappho.
Zwar ach! verhallt sind ihre Gesäng in Nacht:
Doch weht in Flaccus lebende Harmonie
Nachhall; und sanft um tote
Rollen4)
Tönt in den Schlacken Vesuvs ihr Lispel.
Mir trug Lyäos, mir der begeisternden
Weinrebe Sprößling; als, dem Verstürmten gleich
Auf ödem Eiland, ich mit Sehnsucht
Wandte den Blick zur Hellenenheimat.
Schamhaft erglühend, nahm ich den heiligen
Rebschoß, und hegt' ihn, nahe dem Nordgestirn,
Abwehrend Luft und Ungeschlachtheit,
Unter dem Glas in erkargter Sonne.
Vom Trieb der Gottheit, siehe, beschleuniget,
Stieg Rankenwaldung übergewölbt, mich bald
Mit Blüte, bald mit grünem Herling,
Bald mit geröteter Traub umschwebend.
Lesbos, in der äolischen Insel Lesbos, vorzüglich um die Stadt
Methymna, wuchs ein köstlicher Wein, der einem Dichter bei Athenäus (I, p. 29) nicht
wie Wein, sondern wie Ambrosia, zu schmecken schien.
Dionysos oder Bacchus veredelte durch Anbau, und gab lyrische Begeisterung.
Arion, Alkäos und Sappho waren Lesbier.
Tote Rollen, die durch den Vesuv verschütteten Bücherrollen, die zum
Teil ausgegraben, aber vernachlässigt wurden.