Heinrich Seidel

Maitrank (Heinrich Seidel)

Maitrank

Es rankt die Rebe am rauschenden Rheine,

Die Kräfte der Erde saugt sie empor!

Sie bindet den Sommer und bannt ihn in Beeren,

Sie wendet und wandelt im Wechsel der Wochen

Der Sonne Gefunkel zu flüssigem Feuer,

Der Sonne Gleissen in glänzendes Gold,

Und füllt die Fässer mit feurigen Fluthen,

Der sinkenden Sonne Abschiedsgeschenk.

Im dämmernden Walde mit süssen Düften

Wächst in der Wildniss ein zierliches Würzkraut

Ein feines Pflänzlein, Waldmeister genannt

Frühzeitige Düfte des frischen Frühlings,

Ein Waldeswürzhauch entströmet wohlig

Dem linden Kräutlein in lieblicher Kraft.

Es mischt nun der Meister mit weisem Maasse

Das Gold des Herbstes zur Gabe des Frühlings

Der Sonne Feuer zur Waldeswürze,

Dass lieblich vereint sich Anfang und Ende.

Das Sonnen-Entsprossne dem Schatten-Enttauchten,

Die duftende Milde der leuchtenden Macht.

O füllt mir den Becher mit funkelndem Feuer,

Füllt ihn zum Rande mit goldener Gluth!

Bei seinen Düften gedenk ich der Jugend

Der längst entschwundenen lieblichen Zeit,

Der guten Genossen, der goldenen Tage,

Denk ich an Frühling und Frohsinn und Freiheit

Und lieblichen Mondschein und lächelnde Mädchen

Mit roten Rosen im goldnen Gelock.

Dir bring ich den Trank vom rauschenden Rheine

Mit deines Waldes Düften gewürzt!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind