Jung gewohnt, alt getan (Gottfried Keller)
Die Schenke dröhnt, und an dem langen Tisch
Ragt Kopf an Kopf verkommener Gesellen;
Man pfeift, man lacht; Geschrei, Fluch und Gezisch
Ertönte an des Trankes trüben Wellen.
In dieser Wüste glänzt' ein weisses Brot,
Sah man es an, so ward dem Herzen besser;
Sie drehten eifrig draus ein schwarzes Schrot
Und wischten dran die blinden Schenkemesser.
Doch einem, der da mit den andern schrie,
Fiel untern Tisch des Brots ein kleiner Bissen;
Schnell fuhr er nieder, wo sich Knie an Knie
Gebogen drängte in den Finsternissen.
Dort sucht' er selbstvergessen nach dem Brot,
Doch da begann's rings um ihn zu rumoren,
Sie brachten mit den Füssen ihn in Not
Und schrien erbost: "Was, Kerl, hast du verloren?"
Errötend taucht' er aus dem dunklen Graus
Und barg es in des Tuches grauen Falten.
Er sann und sah sein ehrlich Vaterhaus
Und einer treuen Mutter häuslich Walten.
Nach Jahren aber sass derselbe Mann
Bei Herrn und Damen an der Tafelrunde,
Wo Sonnenlicht das Silber überspann
Und in gewählten Reden floh die Stunde.
Auch hier lag Brot, weiss wie der Wirtin Hand,
Wohlschmeckend in dem Dufte guter Sitten;
Er selber hielt's nun fest und mit Verstand,
Doch einem Fräulein war ein Stück entglitten.
"O lassen Sie es liegen!" sagt sie schnell;
Zu spät, schon ist er untern Tisch gefahren
Und späht und sucht, der närrische Gesell,
Wo kleine seidne Füsschen stehn zu Paaren.
Die Herren lächeln und die Damen ziehn
Die Sessel scheu zurück vor dem Beginnen;
Er taucht empor und legt das Brötchen hin,
Errötend hin auf das damastne Linnen.
"Wohl einer Frau galt meine Artigkeit,
Doch Ihnen diesmal nicht, verehrte Dame!
Es galt der Mutter, die vor langer Zeit
Entschlafen ist in Leid und bittrem Grame."