Gottfried Keller

In der Stadt (Gottfried Keller)

1.

Wo sich drei Gassen kreuzen, krumm und enge,

Drei Züge wallen plötzlich sich entgegen

Und schlingen sich, gehemmt auf ihren Wegen,

Zu einem Knäu'l und lärmenden Gedränge.

Die Wachtparad' mit gellen Trommelschlägen,

Ein Brautzug kommt mit Geigen und Gepränge,

Ein Leichenzug klagt seine Grabgesänge;

Das alles stockt, es kann kein Glied sich regen.

Verstummt sind Geiger, Pfaff' und Trommelschläger;

Der dicke Hauptmann flucht, dass niemand weiche,

Gelächter schallet aus dem Freudenzug.

Doch oben, auf den Schultern schwarzer Träger

Starrt in der Mitte kalt und still die Leiche

Mit blinden Augen in den Wolkenflug.

2.

Was ist das für ein Schrein und Peitschenknallen?

Die Fenster zittern von der Hufe Klang,

Zwölf Rosse keuchen an dem straffen Strang,

Und Fuhrmannsflüche durch die Gasse schallen.

Der auf den freien Bergen ist gefallen,

Dem toten Waldeskönig gilt der Drang;

Da schleifen sie, wohl dreissig Ellen lang,

Die Rieseneiche durch die dumpfen Hallen.

Sie weiden sich an der gebrochnen Kraft;

Da liegt entkrönt der tausendjähr'ge Baum,

Aus allen Wunden quillt der edle Saft.