Friedrich Schiller

Die Macht des Gesanges (Friedrich Schiller)

     

    Ein Regenstrom aus Felsenrissen,

Er kommt mit Donners Ungestüm,

Bergtrümmer folgen seinen Güssen,

Und Eichen stürzen unter ihm;

Erstaunt, mit wollustvollem Grausen,

Hört ihn der Wanderer und lauscht,

Er hört die Fluth vom Felsen brausen,

Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:

So strömen des Gesanges Wellen

Hervor aus nie entdeckten Quellen.

    Verbündet mit den furchtbarn Wesen,

Die still des Lebens Faden drehn,

Wer kann des Sängers Zauber lösen,

Wer seinen Tönen widerstehn?

Wie mit dem Stab des Götterboten

Beherrscht er das bewegte Herz:

Er taucht es in das Reich der Todten,

Er hebt es staunend himmelwärts

Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele

Auf schwanker Leiter des Gefühle.

    Wie wenn auf einmal in die Kreise

Der Freude, mit Gigantenschritt,

Geheimnißvoll, nach Geisterweise,

Ein ungeheures Schicksal tritt;

Da beugt sich jede Erdengröße

Dem Fremdling aus der andern Welt,

Des Jubels nichtiges Getöse

Verstummt, und jede Larve fällt,

Und vor der Wahrheit mächt'gem Siege

Verschwindet jedes Wort der Lüge.

    Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,

Nach langer Trennung bitterm Schmerz,

Ein Kind mit heißen Reuethränen

Sich stürzt an seiner Mutter Herz:

So führt zu seiner Jugend Hütten,

Zu seiner Unschuld reinem Glück,

Vom fernen Ausland fremder Sitten

Den Flüchtling der Gesang zurück,

In der Natur getreuen Armen

Von kalten Regeln zu erwarnen.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Schillers Sämmtliche Werke, Erster Band"
Herausgeber: J. G. Cotta'sche Buchhandlung