Ferdinand Freiligrath

In Graubünden (Ferdinand Freiligrath)

Juli 1872

         

Ich sitz im rasselnden Zuge:

Vorbei! Die Funken sprühn!

Seid mir gegrüßt im Fluge,

Ihr Weiler still und grün!

Mit Schlössern und mit Hütten,

Mit Busch und Baum und Bronn,

Wie liegt ihr traut inmitten

Der Flur am Rhätikon!

Schneehäupter leuchten und brennen

Hoch über euch landein;

An euch vorüberrennen

Seht ihr den jungen Rhein.

Das Leben seht ihr schäumen

Den Strom hinauf, hinab, -

Seht unter Blumen und Bäumen

Am Strom auch manches Grab.

»Das Grab ist tief und stille,« -

Hier auf der sonnigen Flur,

In des Lebens Drang und Fülle,

Wie kommt das Lied mir nur?

Ich hör es in den Gründen, -

Ich hör es in der Luft;

Ein Sänger sang es aus Bünden,

Und dort ist seine Gruft!

Dort unter »des Kirchhofs Flieder«

Legt' er sich hin zu ruhn;

Weich waren seine Lieder,

Doch tapfer war sein Tun.

Den Lebenden froh geboten

Allzeit die rechte Hand!

Doch auch den braven Toten

Reicht sie »ins stille Land!«

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3 15 004911 3
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.