Vorfrühling (Ernst Stadler)
1902/03
Bäume weiß ich, frühlingsstarke Bäume, denen gärend der Jugend Saft durch
glühende Adern singt.
Die lechzend verlangen nach dem Rausche der Erfüllung.
Aber noch starren sie kahl und stumm. Harte Schorfe ketten die vorschwellenden Triebe.
Und in wilden Träumen nur langen sie empor zu dem schaffenden Licht, daß es sie bade in
Glanz und Glut.
Weiten sich ihre Äste, daß gierig sie einsögen den zauberstarken Most lauen
Sommerregens, zu erblühen und zu leben gleich ihren Brüdern.
Denn noch kennen sie nicht den Sommerrausch der Erfüllung. Aber krachend durchwühlt ihren
Leib der Lenzstrom der Ahnung.
Wanderer ziehen vorüber, und also spricht einer zum anderen:
»Sehet die Bäume dort, wie kahl sie stehen und stumm! Kalt schleppt sich ihr Blut, und
mürrisch fliehen sie des Lenzes sanft wirkende Kraft.
Lasset sie im Dunkeln, die Finstern! . . .«
Und nicht einer, der sähe die stürmenden Flammen der Sehnsucht, die gierend aus ihren
Augen lodern und verzehrend über ihnen zusammengluten . . .