Detlev von Liliencron

Stammelverse nach durchwachter Nacht (Detlev von Liliencron)

   

Nein, du, du -

Warum schlugst du nicht

Deine Arme um mich

Und flüstertest meinen Namen?

Warum lag nicht meine Schläfe

An deiner Schulter?

Warum hört' ich nicht dein Sprechen im Traum

Und sah nicht deine Träume?

Wenn ich mich schlafend stellte,

Und du dich vorsichtig über mich bogst,

Und ich horchte auf dein leises süßes Betteln,

Du wolltest mich nicht wecken,

Wolltest mich wecken,

Warum hört' ich's nicht

In dieser grausamen Nacht?

Du drängtest dich nicht an mich,

Deine Hand liebkoste nicht mein Haar.

Ich wollte dich an mich ziehn,

Und statt deine Lippen zu finden,

Mußt' ich die Kissen küssen

In wahnsinniger Sehnsucht

Nach dir, nach dir.

Stund' auf Stunde

Zogen die Schatten,

Und die Finsternisse schüttelten mich

In den Schauern der Liebe.

Nun steh ich am offnen Fenster.

Auf dem Herzen riß ich mein Hemd auf,

Daß mich der Tau kühle.

Am dünn-dämmrigen Himmel

Verbleicht nüchtern

Der Morgenmond.

Vom Flusse her vernehm ich

Langsame, gleichmäßige Ruderschläge.

Bei jedem Schlage

Knarren und janken die Riemen in ihren Pflöcken.

Einsam, durch die lauschende Stille,

Singt eine Drossel

Im Nachbargarten.

Duffgrau-silbern hängen im Zwielicht

Die Blätter der Bäume und Gesträuche;

Nur ein rundes Geranienbeet

Leuchtet grellrot zu mir empor.

Und alles wartet demütig,

Wie mit niedergeschlagenen Augen,

Auf den Tag.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3 15 007694 3
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.