August von Platen

Wiegenlied einer polnischen Mutter (August von Platen)

(1831)

   

Schlaf ein, du weißt ja nicht, o Herz,

        Warum du weinst;

Schlaf ein, ich will den wahren Schmerz

        Dich lehren einst.

Schlaf ein, o Herz, was kümmert dich

        Der Feinde Sieg?

Dein Vater fiel für dich und mich

        Im Heldenkrieg.

Dich wird erziehn dereinst der Zar

        Zur Sklaverei:

Doch als ich dich, o Kind, gebar,

        War Polen frei.

O weh des Fluchs, der, teures Land,

        Dich jetzt ergreift!

Es wird bereits durch Polenhand

        Die Stadt geschleift.

Mit Schaufeln naht dem Wall sich schon

        Der Männer Gang;

Sie murmeln sacht, mit halbem Ton

        Den Rachgesang.

O großer Gott, mißhöre nicht

        Den leisen Chor,

Und rufe laut vor dein Gericht

        Den Würger vor!

Es zehre Krieg und Pestilenz

        An seinem Reich,

Ihm scheine freudenlos der Lenz,

        Die Rose bleich!

Das eigne Weib gewähre nie

        Ihm sein Gesuch,

Und aus dem Bett verjage sie

        Der Blutgeruch!

Und wenn sich je sein falscher Mund

        Verzieht und lacht,

Tu ihm der Geist die Waisen kund,

        Die er gemacht!

Und träumt er sich ein leichtes Ziel

        Auf glatter Bahn,

So denk' er, wie sein Vater fiel

        Und wie sein Ahn!

Und stirbt er auch, empfind' er doch

        Der Hölle Graus:

Meineidigen wächst der Finger noch

        Zum Grab heraus.

Was wir begehrten, war ja nur,

        Was uns gehört,

Was jener Mann sogar beschwur,

        Der uns zerstört.

Gott gab, so rühmt er, ihm das Reich,

        Das kühn er lenkt;

Oh, hätte Gott ihm auch zugleich

        Ein Herz geschenkt!

Und du, o Säugling, atme leis

        Im Schoß der Schmach,

Ahm aber einst im Männerkreis

        Dem Vater nach!

Schlaf ein, du weißt ja nicht, o Herz,

        Warum du weinst;

Schlaf ein, ich will den wahren Schmerz

        Dich lehren einst!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-000291-5
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.