Mirtil und Daphne (Salomon Geßner)
Mirtil. Schon so fryhe, meine Schwester! Noch ist die Sonne nicht hinterm Berg hervor.
Kaum hat die Schwalbe ihren Gesang angefangen, der fryhe Hahn hat kaum noch den Morgen
gegryßt, und du bist schon in den Thau hinausgegangen. Was willst du heute fyr ein Fest
bereiten, daß du so fryhe dein Koerbgen voll Blumen sammelst?
Daphne. Sey mir gegryßt, geliebter Bruder! Woher am feuchten Morgen? Was beginnest
du in der stillen Dæmmerung? Ich habe hier Veilchen gesucht und Majen-Blumen und Rosen, und
will izt, da unser Vater und unsere Mutter noch schlafen, will ich sie auf ihr Beth hinstreuen,
dann werden sie unter lieblichen Gerychen erwachen und sich freuen, wenn sie mit Blumen sich
umstreuet sehn.
Mirtil. O du geliebte Schwester! Mein Leben lieb ich nicht so sehr, wie ich dich liebe!
Und ich, du weissest es, Schwester! gestern, beym Abend-Roth, als unser Vater nach unserm Hygel
hinsah, auf dem er oft ruhet; lieblich wær es, so sprach er, styhnd eine Laube dort, die uns
in ihren Schatten næhme. Ich hoert' es, und that als hætt' ichs nicht gehoert; aber
fryh vor der Morgen-Sonne gieng ich hin, und baute die Laube, und band die flatternden
Hasel-Stauden an ihren Seiten fest. O meine Schwester! sieh hin, die Arbeit ist vollendet;
verrathe nichts, bis er es selber sieht; der Tag soll uns voll Freude seyn!
Daphne. O mein Bruder! wie angenehm wird er erstaunen, wenn er die Laube von ferne sieht!
Izt geh ich hin, schleiche leise zu ihrem Beth mich hin, und streue diese Blumen um sie her.
Daphne. Und Bruder! Wenn er denn vom Fenster her die Laube sieht. Wie trieg ich mich? so
sagt er dann, eine Laube steht dort auf dem Ryken des Hygels! Gewiß! die hat mein Sohn
gebaut. Gesegnet sey er! Ihn hælt' die Ruhe der Nacht nicht ab, fyr unsers Alters Freude zu
sorgen! Dann, Bruder! dann ist uns der ganze Tag voll Wonne. Denn wer am Morgen was gutes beginnt,
dem gelingt alles besser, und auf jeder Staude wæchßt ihm Freude.