Rainer Maria Rilke

Abisag (Rainer Maria Rilke)

Sie lag. Und ihre Kinderarme waren

von Dienern um den Welkenden gebunden,

auf dem sie lag die süßen langen Stunden,

ein wenig bang vor seinen vielen Jahren.

Und manchmal wandte sie in seinem Barte

ihr Angesicht, wenn eine Eule schrie;

und alles, was die Nacht war, kam und scharte

mit Bangen und Verlangen sich um sie.

Die Sterne zitterten wie ihresgleichen,

der Duft ging suchend durch das Schlafgemach,

der Vorhang rührte sich und gab ein Zeichen,

und leise ging ihr Blick dem Zeichen nach.

Aber sie hielt sich an dem dunkeln Alten,

und von der Nacht der Nächte nicht erreicht,

lag sie auf seinem fürstlichen Erkalten

jungfräulich und wie eine Seele leicht.

Und manchmal, als ein Kundiger der Frauen,

erkannte er durch seine Augenbrauen

den unbewegten, küsselosen Mund;

und sah: ihres Gefühles grüne Rute

neigte sich nicht herab zu seinem Grund.

Ihn fröstelte. Er horchte wie ein Hund

und suchte sich in seinem letzten Blute.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Neue Gedichte von Rainer Maria Rilke"
Herausgeber: Insel Verlag