Justinus Kerner

Im Eisenbahnhofe (Justinus Kerner)

1852

Hört ihr den Pfiff, den wilden, grellen,

Es schnaubt, es rüstet sich das Tier,

Das eiserne, zum Zug, zum schnellen,

Her braust's wie ein Gewitter schier.

In seinem Bauche schafft ein Feuer,

Das schwarzen Qualm zum Himmel treibt;

Ein Bild scheint's von dem Ungeheuer,

Von dem die Offenbarung schreibt.

Jetzt welch ein Rennen, welch Getümmel,

Bis sich gefüllt der Wagen Raum!

Drauf »Fertig!« schreit's, und Erd und Himmel

Hinfliegen, ein dämonscher Traum.

Dampfschnaubend Tier! Seit du geboren,

Die Poesie des Reisens flieht;

Zu Roß mit Mantelsack und Sporen

Keine Kaufherr mehr zur Messe zieht.

Kein Handwerksbursche bald die Straße

Mehr wandert froh in Regen, Wind,

Legt müd sich hin und träumt im Grase

Von seiner Heimat schönem Kind.

Kein Postzug nimmt mit lustgem Knallen

Bald durch die Stadt mehr seinen Lauf

Und wecket mit des Posthorns Schallen

Zum Mondenschein den Städter auf.

Auch bald kein trautes Paar die Straße

Gemütlich fährt im Wagen mehr,

Aus dem der Mann steigt und vom Grase

Der Frau holt eine Blume her.

Kein Wandrer bald auf hoher Stelle,

Zu schauen Gottes Welt, mehr weilt,

Bald alles mit des Blitzes Schnelle

An der Natur vorübereilt.

Ich klage: Mensch, mit deinen Künsten

Wie machst du Erd und Himmel kalt!

Wär ich, eh du gespielt mit Dünsten,

Geboren doch im wildsten Wald!

Fahr zu, o Mensch! Treib's auf die Spitze,

Vom Dampfschiff bis zum Schiff der Luft!

Flieg mit dem Aar, flieg mit dem Blitze!

Kommst weiter nicht als bis zur Gruft.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-538-06634-5
Erschienen im Buch "Das große deutsche Gedichtbuch"
Herausgeber: Athenäum Verlag GmbH