Justinus Kerner

Der Traum eines Arztes (Justinus Kerner)

in einer Nacht zu Nürnberg im Jahre 1845

         

Es war ein Arzt aus Schwaben

Zu Nürnberg in Quartier,

Der wollt' frühmorgens haben

Zur Stärkung Wurst und Bier.

Da sprach des Hauses Meister:

»Ja! trinkt! bleich seht Ihr aus.

Saht Ihr heut nacht wohl Geister

In meinem alten Haus?«

»Nein!« sprach der Arzt, »mit Schauern

Träumt' ich heut nacht den Traum:

In eines Kirchhofs Mauern

Saß ich an einem Baum.

Kein goldner Vollmond schiffte

Durchs grüne Rebental.

Es zuckte durch die Lüfte

Entfernter Blitze Strahl.

Ich aber saß beklommen,

Als drohte was noch mehr;

Sprach, wie bin ich gekommen

Um Mitternacht hieher?

Ich seufzte und ich grollte,

Da hör ich dumpfes Schall'n,

Als ob die Erd' entrollte

Den Grabeshügeln all'n.

Der Mond aus Wolkenbergen

Auf einmal strahlend bricht,

Da seh ich, wie aus Särgen

Steigt Leich' an Leiche dicht.

Die lenken ihre Schritte

Gerade auf mich zu,

Ich aber ruf: ›Ich bitte,

Ihr Toten, kehrt zur Ruh'!‹

Schnell will ich mich erheben,

Gebannt bleib ich am Baum,

Die Leichen zu mir schweben.

O nie vergeßner Traum!

Die erste, wie im Grimme

Hebt auf die schwarze Hand,

Und spricht mit hohler Stimme:

›Mein Tod war heißer Brand.

Du aber hast gestecket

Moschus in mich hinein,

Die Glut noch mehr gewecket,

Der Tod half mir allein.‹

Drauf mit den Knochenhänden

Die zweite weist aufs Herz,

Und spricht: ›So mußt' ich enden!

Hier innen saß mein Schmerz.

Du aber gabst mir Pillen

Und Tränke für die Brust:

Mein Leiden hat zu stillen

Allein der Tod gewußt.‹

Die dritte kommt geschritten,

Und streckt mir hin ihr Bein:

›Hättst du dies abgeschnitten,

Würd' ich noch lebend sein.

Du doch auf meine Klagen

Sprachst: Jod und Lebertran

Heilt dich in wenig Tagen,

Der Tod nur hat's getan.‹

Die vierte mit dem Kopfe

Stets nickte hin und her:

›Wie war mir armen Tropfe

Im Leben der so schwer!

Hättst Wasser mir gegeben

Statt China immerdar,

So wär' ich noch am Leben.

Der Tod mein Helfer war.‹

Jetzt kommt die fünfte Leiche

An Krücken her auf mich,

Ich kenne sie, ruf: ›Weiche!

Die Erde decke dich!

Fort! fort! sie deck' euch alle,

Ihr Toten! fort vom Licht!‹

Da ruft's mit grellem Schalle:

›Arzt, mit dir ins Gericht!‹

Nun kommt der Tod gegangen,

Die Leichen singen: ›Tod!

Mit Kränzen sei umfangen,

Du Retter aus der Not.

Preis dir, Arzt, der gefunden

Den Balsam Grabesruh',

Du bandest unsre Wunden

Sanft mit dem Sargtuch zu.‹

Und jetzt, an mir vorüber,

Schwebt' Tod und Leichenchor.

Schnell war der Himmel trüber,

Das Mondlicht sich verlor.

Zum Baum, wo meine Stätte,

Ein Blitzstrahl niederkracht,

Davon bin ich im Bette

Vom tollen Traum erwacht.« -

Der Hausherr, etwas kühler,

Sprach: »O das hat gemacht,

Daß ihr im Dunst so vieler

Kunstbrüder zugebracht.

Der diesen Traum hier träumte,

Justinus Kerner hieß,

Ob aber er ihn reimte

Das bleibt noch ungewiß.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-003857-X
Erschienen im Buch "Ausgewählte Werke"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.