Johann Wolfgang von Goethe

Wanderers Sturmlied (Johann Wolfgang von Goethe)

                   

Wen du nicht verlässest, Genius,

Nicht der Regen, nicht der Sturm

Haucht ihm Schauer übers Herz.

Wen du nicht verlässest, Genius,

Wird dem Regengewölk,

Wird dem Schloßensturm

Entgegensingen,

Wie die Lerche,

Du da droben.

Den du nicht verlässest, Genius,

Wirst ihn heben übern Schlammpfad

Mit den Feuerflügeln.

Wandeln wird er

Wie mit Blumenfüßen

Über Deukalions Flutschlamm,

Python tötend, leicht, groß,

Pythius Apollo.

Den du nicht verlässest, Genius,

Wirst die wollnen Flügel unterspreiten,

Wenn er auf dem Felsen schläft,

Wirst mit Hüterfittichen ihn decken

In des Haines Mitternacht.

Wen du nicht verlässest, Genius,

Wirst im Schneegestöber

Wärmumhüllen;

Nach der Wärme ziehn sich Musen,

Nach der Wärme Charitinnen.

Umschwebt mich, ihr Musen, ihr Charitinnen!

Das ist Wasser, das ist Erde,

Und der Sohn des Wassers und der Erde,

Über den ich wandle

Göttergleich.

Ihr seid rein, wie das Herz der Wasser,

Ihr seid rein, wie das Mark der Erde,

Ihr umschwebt mich, und ich schwebe

Über Wasser, über Erde,

Göttergleich.

Soll der zurückkehren,

Der kleine, schwarze, feurige Bauer?

Soll der zurückkehren, erwartend

Nur deine Gaben, Vater Bromius,

Und helleuchtend umwärmend Feuer?

Der kehren mutig?

Und ich, den ihr begleitet,

Musen und Charitinnen alle,

Den alles erwartet, was ihr,

Musen und Charitinnen,

Umkränzende Seligkeit,

Rings ums Leben verherrlicht habt,

Soll mutlos kehren?

Vater Bromius!

Du bist Genius,

Jahrhunderts Genius,

Bist, was innre Glut

Pindarn war,

Was der Welt

Phöbus Apoll ist.

Weh! Weh! Innre Wärme,

Seelenwärme,

Mittelpunkt!

Glüh entgegen

Phöb Apollen;

Kalt wird sonst

Sein Fürstenblick

Über dich vorübergleiten,

Neidgetroffen

Auf der Zeder Kraft verweilen,

Die zu grünen

Sein nicht harrt.

Warum nennt mein Lied dich zuletzt?

Dich, von dem es begann,

Dich, in dem es endet,

Dich, aus dem es quillt,

Jupiter Pluvius!

Dich, dich strömt mein Lied,

Und kastalischer Quell

Rinnt ein Nebenbach,

Rinnet Müßigen,

Sterblich Glücklichen

Abseits von dir,

Der du mich fassend deckst,

Jupiter Pluvius!

Nicht am Ulmenbaum

Hast du ihn besucht,

Mit dem Taubenpaar

In dem zärtlichen Arm,

Mit der freundlichen Ros umkränzt,

Tändelnden ihn, blumenglücklichen

Anakreon,

Sturmatmende Gottheit!

Wenn die Räder rasselten,

Rad an Rad rasch ums Ziel weg,

Hoch flog

Siegdurchglühter

Jünglinge Peitschenknall,

Und sich Staub wälzt',

Wir vom Gebirg herab

Kieselwetter ins Tal,

Glühte deine Seel Gefahren, Pindar,

Mut. – Glühte? –

Armes Herz!

Dort auf dem Hügel,

Himmlische Macht!

Nur so viel Glut,

Dort meine Hütte,

Dorthin zu waten!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gesammelte Werke in sieben Bänden"
Herausgeber: Bertelsmann Lesering