Johann Heinrich Voss

Neujahrslied (Johann Heinrich Voss)

                 

 

Des Jahres letzte Stunde

Ertönt mit ernstem Schlag:

Trinkt, Brüder, in die Runde,

Und wünscht ihm Segen nach.

Zu jenen grauen Jahren

Entfliegt es, welche waren;

Es brachte Freud und Kummer viel,

Und führt' uns näher an das Ziel.

CHOR

Ja, Freud und Kummer bracht' es viel,

Und führt' uns näher an das Ziel.

 

In stetem Wechsel kreiset

Die flügelschnelle Zeit:

Sie blühet, altert, greiset,

Und wird Vergessenheit;

Kaum stammeln dunkle

Schriften1)

Auf ihren morschen Grüften.

Und Schönheit, Reichtum, Ehr und Macht

Sinkt mit der Zeit in öde Nacht.

CHOR

Und Schönheit, Reichtum, Ehr und Macht

Sinkt mit der Zeit in öde Nacht.

 

Sind wir noch alle lebend,

Wer heute vor dem Jahr,

In Lebensfülle strebend,

Mit Freunden fröhlich war?

Ach mancher ist geschieden,

Und liegt und schläft in Frieden!

Klingt an, und wünschet Ruh hinab

In unsrer Freunde stilles Grab.

CHOR

Klingt an, und wünschet Ruh hinab

In unsrer Freunde stilles Grab.

 

Wer weiß, wie mancher modert

Ums Jahr, versenkt ins Grab!

Unangemeldet fodert

Der Tod die Menschen ab.

Trotz lauem Frühlingswetter

Wehn oft verwelkte Blätter.

Wer von uns nachbleibt, wünscht dem Freund

Im stillen Grabe Ruh, und weint.

CHOR

Wer nachbleibt, wünscht dem lieben Freund

Im stillen Grabe Ruh, und weint.

 

Der gute Mann nur schließet

Die Augen ruhig zu;

Mit frohem Traum versüßet

Ihm Gott des Grabes Ruh.

Er schlummert kurzen Schlummer

Nach dieses Lebens Kummer;

Dann weckt ihn Gott, von Glanz erhellt,

Zur Wonne seiner bessern Welt.

CHOR

Dann weckt uns Gott, von Glanz erhellt,

Zur Wonne seiner bessern Welt.

 

Dunkle Schriften auf dem Grabe der Zeit sind Geschichte und Denkmäler alter

Taten, Gebräuche, Meinungen.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-002332-7
Erschienen im Buch "Idyllen und Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.