Wirthshaus zur Stranddistel (Heinrich Seidel)
Wirthshaus zur Stranddistel
An Johannes Trojan
Derweil wir sassen und uns friedlich nährten
Hob ich den Becber mit dem rothen Wein,
Dass sich der Sonne Glanz hineinergoss,
Und wie Rubin auf seinem goldnen Grund,
Als wie ein köstlich seltner Edelstein
Des Weines Fluth erglänzend funkelte
In diesen Wunderanblick ganz vertieft
Bemerkt' ich kaum ein Flattern um mein Haupt,
Ein schwankend Kreisen. Ja, fürwahr, ein Falter,
Ein Sommervogel war's, ein Trauermantel,
Der angelockt vom Duft des rothen Weines,
Die angeborne Scheu soweit vergass,
Dass er auf meine Hand sich plötzlich senkte.
Dort sass er nun entfaltend seiner Flügel
Dem braunen Sammet gleiche Pracht und tastend
Mit dem spiralisch feinen Rüsselchen
Fuhr suchend er umher und dachte wohl
"Ei nun, was duftet hier so schön?" Behutsam
Den Becher neigt' ich, dass des Weines Fluth
Dem seltnen Gast entgegen kam, und dieser
Gewahrte kaum den Vortheil, der sich bot,
Als er das feine Saugerüsselchen
Behaglich in den Wein herniedertauchte
Und sog und sog. "Fürwahr, er trinkt!" so riefen
Wir beide fast zugleich und schauten still
Vergnüglich unserm Gaste zu. - Nicht lange.
Denn plötzlich wie in jähem Schreck durchfuhr's
Das zarte Thier. Merkt' es den Dämon wohl,
Der in des Weines Purpurgrunde schläft? -
Auf schwang es sich und flog und kam nicht wieder.
Wie seltsam doch, dass beide wir noch jetzt
Wie an ein Glück an diese Stunde denken.
Was war's? Es war ein Nichts - belächelt wohl
Von Manchem, der's vernimmt. Und dennoch möcht ich
Es missen nicht um Gold. - Du denkst das Gleiche.
Mein guter Freund. Das weiss ich sicherlich.