Heinrich Seidel

Fichtennadelduft (Heinrich Seidel)

Fichtennadelduft

Durch schwülen Wald in Sommertagen.

Wo der Pirol aus Wipfeln rief,

Sonst alles ruhte, alles schlief,

Da ging ich, wo man Holz geschlagen.

[)er sommerlichen Sonne Gluthen,

Sie senkten sich in goldnen Fluthen

Hin auf den unbeschützten Grund -

Ein süsser Fichtennadelduft

Erfüllte rings die heisse Luft

Still brütend in der Lichtung Rund.

Und wie auf Schwingen fortgetragen

Hinflog mein Geist zu Wintertagen,

Wo in des Zimmers stillem Kreis

Der Tannenbaum die harz'gen Düfte

Haucht in die sanftdurchwärmten Lufte,

Und Rauschgold knistert zart und leis.

Und meinen Busen fühlt ich's dehnen.

Und mich befiel ein kindlich Sehnen

Nach dir, du holde Weihnachtszeit.

Was darf man in des Sommers Reichen

Wohl deinem stillen Glanz vergleichen

Und deiner trauten Heimlichkeit!

Die Zeit verging. - In Wintertagen

Da wurden Buden aufgeschlagen

Mit all dem sonderlichen Tand.

Das Wunder stieg vom Himmel wieder

Auf die verschneite Erde nieder -

Die heil'ge Weihnacht kam ins Land.

Es stand die schöngeschmückte Fichte

In farb'gem Glanz, in hellem Lichte.

Ein goldumglänzter Märchenbaum.

Doch, als der Zweige harz'ges Düften

Nun schwebte in den warmen Lüften,

Kam's über mich gleichwie ein Traum.

Da ward mein Geist hinweggetragen

Zu gluthgetränkten Sommertagen -

Ich hört' ihn rufen, den Pirol,

Und Vogelsang, und blühnde Wälder,

Und grüne Wiesen, goldne Felder -

Ein Märchen schienen sie mir wohl. -

Und meinen Busen fühlt ich's dehnen,

Und mich befiel ein tiefes Sehnen

Mit drängend lieblicher Gewalt,

Und als ein Glück, nicht auszusagen,

Erschien es mir: in Sommertagen

Zu wandern durch den grünen Wald!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind