Heinrich Seidel

Die letzte Robbe (Heinrich Seidel)

Die letzte Robbe

EINE EISMEER-TRAGÖDIE.

Im nächtlichen Norden, nahe dem Nordpol,

Lieget ein Eiland, verloren im Eismeer.

Kaum wie ein Hauch nur grüsst es der Frühling,

Leicht wie ein Traum nur streift es der Sommer,

Weckend das wenige winzige Wachsthum -

Graues Mooswerk, grünende Gräser,

Bunte, begnügsam blühende Blumen,

Aus langem Schlafe zum Leben empor.

Friedliche Robben bewohnten die Runde,

Denen das Meer bot mächtige Mästung.

Sie tauchten empor mit wampigem Wanste,

Lagen mit glatten glänzenden Leibern

Satt sich sielend im Schimmer der Sonne

In feister Fülle des thranigen Fettes,

Friedlich bedacht auf Frass und Verdauung.

Sie lebten und liebten und mehrten sich mächtig,

Bedeckten das Eiland mit dicken Leibern

Sündlos und sorglos in seligem Dasein.

Jahr für Jahr nun raubten die Räuber,

Mühelos mordend die Meeresbewohner.

Tobende Teufel, trugen den Tod sie

Frech auf das fromme, friedliche Eiland

Wie es der Menschen menschlicher Brauch ist.

Mit wilder Vernichtung nahte das Ende,

Vom Leben verlassen, lag in der Leere

Der wogenden Wellenwüste das Eiland.

Nimmer sich sielten satt in der Sonne

Träumerisch träge die traulichen Tiere,

Rings nur blinkte ihr bleiches Gebein!

Ach, nur Eine entrannte der Raublust,

Eine, die letzte des Robbengeschlechtes,

Blieb zu betrauern trübseliges Schicksal

Einsam, verlassen, allein auf dem Eiland.

Sie liegt in der Sonne, die Seele voll Sehnsucht,

Die suchenden Blicke gen Süden gewendet,

Wo die schändlich gemordeten Brüder entschwunden

Dort auf des mächtigen Meeres Gewoge

Schwimmen im Schaume schimmernde Berge,

Denn selbst dem kalten blaulichen Eisblock

Wohnt nach dem Süden die Sehnsucht im Innern,

Muss er auch sterben vom Strahl der Sonne. -

Kein Gefährte, keine Gefährtin

Weilt in der wilden verödeten Weite,

Bleiche Knochen nur blinken umher. -

Fruchtlos im Frühling fühlt sie Gefühle!

Trübe trauernd den thranigen Busen

Drängt sie an feuchte fühllose Felsen

Und schaut nach Süden in suchender Sehnsucht,

Wo in der Ferne das Fett der Gefährten

Dauernd draufgeht in dürftigem Dienst:

Leuchtend als Thran in der Lampe der Armen,

Schmeidigkeit leihend schmierigen Stiefeln,

Dem rollenden Rade rascheren Lauf! -

Also im wüsten Wellengewoge,

Allein auf fernem, felsigem Eiland,

Inmitten blinkend bleicher Gebeine

Des furchtbar fühllos vernichteten Volkes,

Ruhet ruhlos die letzte Robbe,

Und qualvoll entquillt den verquollenen Äuglein

Traurig die trübe thranige Thräne.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind