Heinrich Seidel

Das Ich (Heinrich Seidel)

Ich lag zur Nacht vom Schlaf geflohn -

Die Mitternacht vorüber schon,

Es schlief die Welt - so stumm die Nacht

Nur im Gebälk der Holzwurm wacht.

Knirscht hier und dort mit ems'gem Nagen.

Von Zeit zu Zeit die Uhren schlagen,

Zuweilen rieselt von den Wänden,

Gelöst von unsichtbaren Händen

Der Kalkstaub nieder - Alles nur,

Dass man die Stille hört in der Natur.

Ich lag und sann, und über mich

Da kam's mit einmal sonderlich,

Dass ich des Ich's mir ward bewusst,

Und seltsam schnürt es meine Brust,

Und wie ein Wunder fiel's mir ein

Das sonderbare Ding: Zu sein.

Dass ich hier lag und dass ich war,

Gar seltsam schien es mir fürwahr,

Und dass ich mitten in die Welt

Nun grade so dahingestellt,

Dass mir auch nimmer blieb ein Schein,

Wie es denn sollte anders sein.

Mich fasst' es wie ein Grauen schier -

So stand ich gleichsam ausser mir,

Betrachtend das kuriose Ding,

Das als mein "Ich" auf Erden ging.

Ein Sieden wühlte mir durch's Hirn

Und fiebernd pochte mir die Stirn -

Ich sah mich an der Schwelle stehn,

Wo wir das grosse Dunkel sehn,

An jenem unerforschten Pfad,

Den Niemand lebend noch betrat.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind