Heinrich Seidel

Aus der Kindheit - 2. Das Lesen (Heinrich Seidel)

Du Kirchlein grau, aus Feldstein aufgebaut,

Von tausend leichten Schwalben froh umschwirrt,

Du Kirchhof grün mit den zerfallnen Hügeln

Und deiner Linden hold vertrautem Rauschen,

Ich kenn' dich wohl und oft zur Abendzeit,

Wenn eine Stille wird in meinen Herzen,

Und manch Erinnern durch die Seele geht,

Tauchst du empor, du Spielplatz meiner Kindheit!

Wie oft mit einem neuen Buch voll Märchen,

Das mir ein Goldschatz däuchte wonniglich,

Im Schatten lag ich lesend zwischen Gräbern.

Ringsum der Sommertag - der wusste nichts

Von Tod und Sterben - Blumen liess er blühn,

Und Voge1sang war seine lust'ge Stimme!

Der wusste nichts von Mären und Geschichten:

"Die Welt ist schön" das war sein Ein und Alles

Er neckte mich, der lustige Geselle!

Er schickte seinen Sonnenschein in's Kraut,

Der klopfte mit dem leichten Strahlenfinger

Alljegliches Gethier heraus, das lustig

Sein Wesen treibt im wohldurchsonnten Gras.

Da hüpfte mir ein Heupferd, grossgeaugt,

Mit keckem Sprung hin auf das weisse Blatt

Und drehte sich, und hopp! da sass es schon

Am nächsten Grashalm, der sich schwankend neigte.

Er schickte kleines kribbelndes Gethier,

Das froh auf mir spazieren ging und indiskret

Nicht Grenzen kannte seiner frechen Märsche.

Er schickte mir der Mücken singend Volk,

Das zierlich, feingebeint und zartgeflügelt,

Aetherisch fast, doch nichts als Blutdurst kennt

Er schickte mir die leichten Gaukeltruppen,

Der Schmetterlinge flatterndes Geplänkel -

Das Pfauenauge und den bunten Fuchs -

Citronenfalter gelb mit rothen Pünktchen!

Es lockte mich der Fink im Lindenbaum

Mit seines Liedes schmetternder Fanfare;

Hinschoss die Schwalbe mit gesenktem Flug

Und rief: "Quiwit, komm mit!" Es kam der Wind,

Der Sommerwind, der duftgetränkte, lose

Uind blättert' um verschmitzt das Buch, allein

Es liess mich nicht - im Zauberbann befangen

Phantastischer Gebilde - las ich fort.

Ich sah nur ihn, den tapfren Königssohn.

Ich sah nur sie, die strahlende Prinzessin,

Ich litt sie all', die unerhörten Leiden,

Ich kämpfte all' die fürchterlichen Kämpfe.

Es liess mich nicht das Buch, bis ich's bezwungen,

Und wie im Traume ging ich dann einher

Und sah die Welt durch einen Nebelschleier

Und trug das Haupt voll lichter Phantasieen

Und heitrer Wunder. - Einmal nur, ach einmal,

So denk' ich oft, wenn müde und verdrossen

Mein Auge jetzt durch Bücherzeilen schweift,

Und all' die kleinen Teufel kritisch meckern,

Ach einmal noch möcht' so ich lesen können

Wie damals in der gläubigen Kinderzeit!

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind