Heinrich Seidel

Auf ewig (Heinrich Seidel)

Auf ewig

Ich weiss ein Grab, vergessen und allein -

Aus alter Zeit ist es zurückgeblieben -

Verwittert - moosbedeckt der schwere Stein.

Und eine Schrift ist in den Stein getrieben:

"Auf ewig ist dies Grab erkauft, und nimmer

Darf man es öffnen!" also steht's geschrieben.

Ich fand es jüngst, als ich im Abendschimmer

Einherging träumend in der Stille dort,

Nachsinnend dem vergänglich eitlen Flimmer.

Der du da ruhst an dem vergessnen Ort,

Muss noch dein Stein von deiner Thorheit sagen?

Was dachtest du bei dem vermessnen Wort?

Du wusstest doch, dass, wo nun Bäume ragen,

Einst Göttertempel schimmernd sind gestanden,

Bis sie ein Gottesblitz in Staub zerschlagen.

Gewalt'ge Städte, die in weiten Landen

Mit Ruhm geherrscht - sie sind dahingeschieden -

Es weiden Herden dort, wo sie verschwanden

Und die geruht in mächt'gen Pyramiden,

In Sarkophagen, jene Königsleichen,

Wo sind sie hin?! Sie sind zerstreut hienieden.

Du dachtest wohl, dich würd' es nicht erreichen,

Und hast dein "Ewig" auf den Stein geschrieben,

Doch einem Samenkorne musst' es weichen!

Ein Samenkorn, einst dort zurückgeblieben

Hat zwischen Stein und Sockel leise nieder

Die Wurzeln in das feuchte Land getrieben.

Es wuchs empor und wiegte sein Gefieder,

Sein Blätterwerk, in den durchsonnten Lüften

Es wuchs - und Frühling kam auf Frühling wieder.

Und Frühling kam und ging mit seinen Düften

Und nährt das Samenkorn zum Riesenbaume

Vom Drang der Wurzeln muss der Stein zerklüften!

Halb abgewälzt liegt er am Grabessaume,

Und durch das "Ewig" ist ein Riss gesprungen.

So gings zu Ende mit dem kurzen Traume.

"Auf ewig! armes Wort im Menschenmunde!"

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Glockenspiel - Gesammelte Gedichte, Band VII der Gesammelten Sch"
Herausgeber: A.G. Liebeskind