Gottfried August Bürger

Sanct Stephan (Gottfried August Bürger)

       

Sanct Stephan war ein Gottesmann,

Von Gottes Geist berathen,

Der durch den Glauben Kraft gewann

Zu hohen Wunderthaten;

Doch seines Glaubens Wunderkraft

Und seine Himmelswissenschaft

Verdroß die Schulgelehrten,

Die Erdenweisheit ehrten.

Und die Gelehrten stritten scharf

Und waren ihm zuwider;

Allein die Himmelsweisheit warf

Die irdische darnieder,

Und ihr beschämter Hochmuth sann

Auf Rache an dem Gottesmann!

Ihn zu verleumden, dungen

Sie falscher Zeugen Zungen.

Und gegen ihn in Aufruhr trat

Die jüdische Gemeinde.

Bald riß ihn vor den Hohen Rath

Die Rachgier seiner Feinde.

Die falschen Zeugen stiegen auf

Und logen: Dieser hört nicht auf,

Zu sträflichem Exempel

Zu lästern Gott und Tempel.

Sein Jesus, schmäht er, würde nun

Des Tempels Dienst zerstören,

Hinweg die Satzung Mosis thun

Und andre Sitten lehren.

Starr sah der ganze Rath ihn an;

Doch er, mit Unschuld angethan,

Trotzdem was sie bezeugten,

Schien Engeln gleich zu leuchten.

»Nun sprich! Ist dem also?« begann

Der Hohepriester endlich.

Da hub er frei zu reden an

Und deutete verständlich

Der heiligen Propheten Sinn

Und was der Herr von Anbeginn

Zu Juda's Heil und Frommen

Gered't und unternommen.

»Doch, Unbeschnittne«, fuhr er fort,

»An Herzen und an Ohren!

An euch war Gottes That und Wort

Von je und je verloren.

Eu'r Stolz, der sich der Zucht entreißt,

Stets widerstrebt er Gottes Geist.

Ihr, sowie eure Väter,

Seid Mörder und Verräther!

»Nennt mir Propheten, die sie nicht

Verfolgt und hingerichtet,

Wenn sie aus göttlichem Gesicht

Des Heilands Kunft berichtet,

Des Heilands, welchen eu'r Verrath

Zu Tode jetzt gekreuzigt hat.

Ihr wißt zwar Gottes Willen,

Doch wollt ihn nie erfüllen.«

Und horch! ein dumpfer Lärm erscholl.

Es knirschte das Getümmel.

Er aber ward des Geistes voll

Und blickt' empor gen Himmel

Und sah eröffnet weit und breit

Des ganzen Himmels Herrlichkeit

Und Jesum in den Höhen

Zur Rechten Gottes stehen.

Nun rief er hoch im Jubelton:

»Ich seh' im offnen Himmel,

Zu Gottes Rechten, Gottes Sohn!«

Da stürmte das Getümmel

Und brauste wie ein wildes Meer

Und übertäubte das Gehör,

Und wie von Sturm und Wogen

Ward er hinweggezogen.

Als er den letzten Odem zog,

Zerschellt von ihrem Grimme,

Da faltet' er die Hände hoch

Und bat mit lauter Stimme:

»Behalt', o Herr, für dein Gericht

Dem Volke diese Sünde nicht! –

Nimm meinen Geist von hinnen!«

Hier schwanden ihm die Sinnen.

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.