Ein Schwurgedicht (Gottfried Keller)
Da liegt ein Blatt, von meiner Hand beschrieben
In Tagen, die nun lang dahin geschwunden,
So lang, dass halb verblich die flücht'ge Schrift.
Doch wie ich lese, wird ein Unterfangen,
Ein wunderliches, wieder mir lebendig,
Das mich befiel in wunderlicher Zeit,
Als schnödes Abenteuer mächtig herrschte
Und frech die Welt zum Abenteuer schuf.
Was während eines Mondes kurzer Dauer
Von tollem Spuk und schrecklichem Geschehen,
Merkwürd'gem Wagnis und ruchloser Tat
Die Zeitung brachte, von versunknen Schiffen,
Mit schwerem Gold und brüllendem Volk beladen,
Von drehnden Tischen, dran die Torheit sass,
Von Schlachtenlärm und diebischen Marschällen,
Von falschem Gift, durch weisse Hand gemischt:
Das dacht' ich rhythmisch wogend zu verflechten
In einen wild rhapsodischen Gesang,
Gleich einem Wandrer, der bestäubt und keuchend
Dem tobenden Gewühl mit Not entrann
Und seinen Fiebertraum mit Hast erzählt.
So schrieb ich mir auf Blätter jede Kunde,
Und nicht im Stich fürwahr liess mich die Zeitung,
Jedoch die Lust, die mir gemach verging.
Dies gelbe Blatt nur hat sich noch erhalten.
Ein Lächeln will beim Anblick mich beschleichen,
Das wandelt aber sich sogleich in Ernst.
Es steht ein Richterspruch darauf verzeichnet
Und eine Tat so dunkel traur'ger Art,
Dass wie von selbst die Hand zum Stifte greift,
Das blut'ge Rätsel doch noch festzubannen.
In Franken war's, an stillem Sommertage,
Dass eine Frau ihr kleines liebes Bübchen
Mit Korb und Vesperbrot zum Vater sandte,
Der im Gehölze, mässig weit, im Schweisse
Des Angesichts an seiner Arbeit stand.
Sie wusste, dass er heut ein hartes Lohnwerk
Vollbringen wollte bis zur Dunkelzeit.
Ein mütterlicher kleiner Übermut
Verlockte sie, das Wagnis zu versuchen
Und mit dem Bötlein ihren Eh'kumpan
Zu überraschen dieses erste Mal;
Denn Sonntag war es morgen und im Hause
Blieb ihr zu schaffen übrig noch genug.
Das Knäblein aber sträubte sich zu gehen,
Gewohnt, nur an der Mutter stets zu hangen
Und sie um tausend Dinge zu befragen
Mit Schmeichelwörtchen, lind im Singeton.
"Geh' nur," sprach sie, "die Mundharmonika
Geb' ich dir mit, mein Söhnchen, und drauf spielen
Wirst du gar herrlich auf dem ganzen Wege;
Der Vater ruft: "Was hör' ich für Musik?
Gewiss marschiert ein Regiment Soldaten!"
Wie lacht er aber, wenn sein Hänschen kommt!"
Und da sie aus dem Schrank das Instrumentchen,
Das dort zur Schonung sorglich aufgehoben,
Hervorholt, fasst es gleich der frohe Kleine
Und schreitet wacker, seinen Korb am Arm,
Ins helle Sommerland, die wen'gen Stimmchen
An seinen Lippen unverweilt erprobend
Und stets aufs neue reihend Ton an Ton.
Schon weit ist er; doch über Korn und Klee
Tönt weich und sanft, wie all der blaue Himmel,
Sein einfach Lied nun aus dem Feld herüber:
Der Kinderpuls, ein Lufthauch und die Ferne,
Sie schaffen eine rührend zarte Weise,
Die, fast verwehend jetzt, dann leise schwillt.
Und weil die Mutter hier noch steht und horcht
Und denkt, nun hat er wohl den Forst betreten,
Vernimmt der Vater drüben schon die Töne
Und kennt sein Vögelchen an dem Gesang.
Er lauscht erfreut - auf einmal bricht es ab,
Und stumm bleibt ewig dieser Kindermund!
Kein Knäblein kommt zum Vater, keines kehrt
Zur Mutter abends mit dem Müden wieder.
Nach dreien Tagen erst zog man das Kind
Mit eingeschlagnem Haupt aus einem Wasser,
Das tückisch hehlend, dunkel, unbeweglich,
Abseits vom Pfad im Waldesschatten lag.
Der Mörder auch ward bald darauf ergriffen;
Es war ein starker Bursch von achtzehn Jahren,
Fast unbekannt, der, lungernd in der Stadt,
Misstrauisch schielend auf dem Örglein blies,
Das ihn verriet. Dann vor dem Richter stehend,
Von dessen Kunst bedrängt, erzählt er mürrisch,
Wie er das Kind im Holze angetroffen
Und es gebeten, ihm das Ding zu leihen
Für einen Augenblick, sich dran zu laben;
Denn eine unbezwinglich starke Lust
Hab' ihn schon lang gequält, auf solchem Werklein
Ein einzig Mal sich blasend zu vergnügen.
Kopfschüttelnd hab' das Knäblein fortgespielt,
Er aber es mit einem Stein erschlagen.
Der Wahrspruch fiel, die Sühne ward bemessen;
Doch aus der Untat wurde keiner klug.