Gottfried Keller

Dichtung und Wahrheit (Gottfried Keller)

1

Den Dichter seht, der immerdar erzählt von Lerchensang,

Wie er nun bald ein Dutzend schon gebratner Lerchen schlang!

Bei Sonnenaufgang, als der Tag in Blau und Gold erglüht',

Da war es, dass sein Morgenlied vom Lob der Lerchen klang;

Und nun bei Sonnenuntergang mit seinem Gabelspiess

Er sehnend in die Liederbrust gebratner Lerchen drang!

Das heiss' ich die Natur verstehn, allseitig tief und kühn,

Wenn also auf und nieder sich sein Tag mit Lerchen schwang!

2

Kennt ihr den Kleinkinderhimmel,

Wo als Gott der Zuckerbäcker

Waltet süss und hoch und herrlich

In den Augen k]einer Schlecker?

Und zur Weihnachtszeit, wie flimmert,

Duftet es an allen Wänden!

Welchen Schatz von Seligkeiten

Schüttet er aus mächt'gen Händen!

Lässt erblühen Wunderblumen,

Weise streut er die Gewürze;

Schön stehn ihm die hohe, weisse

Zipfelmütze, Wams und Schürze.

Doch wonach die guten Kinder

Schmachtend vor dem Laden stehen,

Muss dem Reichen, Allgewalt'gen

Reizlos durch die Hände gehen.

Zipfelmütze, weisse Schürze,

O wie nüchtern glänzet ihr,

Und wie mahnt ihr mich an weisses,

Reinliches Konzeptpapier!