Friedrich Gottlieb Klopstock

Das Gegenwärtige (Friedrich Gottlieb Klopstock)

(1789)

       

Ehmals verlor mein fliegender Blick in des Lebens

Künftiges sich, und ich schuf dann, was mir Wunsch war,

Fast zu Wirklichkeit: seine Freuden

Hatte das schöne Phantom!

Denn das Gesetz der Mäßigung wurd' ihm gegeben,

Wurde gethan mit der Strenge, die zu Hofnung

Leitet: aber der Wunsch ist dann selbst

Thor, wenn er Hofnung verdient.

Freue dich deß, das da ist! so sagt' ich mir öfter,

Als dem Getäusch ich es zuließ mir zu gleißen:

Sagt' es, thats! und erlebt' auch, was sich

Über Gewünschtes erhob.

Jetzo verweilt der festere Blick in des Lebens

Vorigem sich, und ich fühle, was dahinfloh,

Fast, als hielt' ich's noch: süßre Freuden

Giebt es mir, war nicht Phantom!

Aber ich werd' auch Leiden gewahr im Vergangnen,

Wehmuth! es geht mit den Leichen der Geliebten

Mir vorbey: wie vermöcht' ich dann mich

Dessen, das da ist, zu freun!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-001391-7
Erschienen im Buch "Oden"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.