Friedrich Schiller

Die Begegnung (Friedrich Schiller)

   

    Noch seh' ich sie - umringt von ihren Frauen,

Die herrlichste von allen, stand sie da;

Wie eine Sonne war sie anzuschauen,

Ich stand von fern und wagte mich nicht nah.

Es faßte mich mit wollustvollem Grauen,

Als ich den Glanz vor mir verbreitet sah;

Doch schnell, als hätten Flügel mich getragen,

Ergriff es mich, die Saiten anzuschlagen.

    Was ich in jenem Augenblick empfunden

Und was ich sang, vergebens sinn' ich nach;

Ein neu Organ hatt' ich in mir gefunden,

Das meines Herzens heil'ge Regung sprach;

Die Seele war's, die, Jahre lang gebunden,

Durch alle Fesseln jetzt auf einmal brach

Und Töne fand in ihren tiefsten Tiefen,

Die ungeahnt und göttlich in ihr schliefen.

    »Das treue Herz, das trostlos sich verzehrt

Und still bescheiden nie gewagt zu sprechen -

Ich kenne den ihm selbst verborgnen Werth;

Am rohen Glück will ich das Edle rächen.

Dem Armen sei das schönste Loos beschert,

Nur Liebe darf der Liebe Blume brechen.

Das schönste Schatz gehört dem Herzen an,

Das ihn erwiedern und empfinden kann.«

Verfügbare Informationen:
Erschienen im Buch "Schillers Sämmtliche Werke, Erster Band"
Herausgeber: J. G. Cotta'sche Buchhandlung