Sonnenuntergang und Aufgang (Friederike Kempner)
Sonnenuntergang und Aufgang
Ein Sonnenuntergang, der Untergang
Desjenigen Volks, das einst so hoch gestrahlt,
Siehst Du die Streifen, purpurrot und lang,
Den jeder Untergang am Himmel malt
Al fresco, blutig halb, halb rosenrot,
Als zögen Schmerz und Unschuld Hand in Hand
Ein stürmisch Leben, ein erhabner Tod
Ein siegreich Dulden, das nichts überwand.
Welch' großes Bild! im Hintergrunde Tag,
Im Vordergrunde tiefe Nacht man sieht,
Ein Volk, das tief im Staube kniet
Hoch über seinem Haupt die Prüfung lag
Und Tränen, Dornen, Ketten, aller Art
Und harte, gift'ge Zungen lauern dort
Und Herzen, ihnen gegenüber, hart
Wie Stein, und wie der stille Mord.
Und Angst und jähe Flucht und bleiche Not
Mit tausend Schrecken, Qualen, wechseln ab,
Ein Schatten-Leben und ein rascher Tod,
In düsterm Flammen-, frischem Wellengrab.
Das Volk sieht lange sich die Prüfung an:
Das Unglück, wie es leibt und lebt und stirbt,
Und wie es, demütig auf steilem Pfad hinan,
Um einen kalten Blick des Mitleids wirbt!
Im Vordergrunde Nacht im Herzen Licht,
Im Herzen jenes Morgenrot
Des Glaubens und der Zuversicht
Erhaben über Finsternis und Tod
Sie überdauernd, überdauernd Raum und Zeit,
Sie umgestaltend in den ewigen Tag
Sie umgestaltend in Unsterblichkeit:
Das gläub'ge Volk hofft es bei jedem Schlag;
Das Volk sieht in den Abgrund tief hinab,
Und ruft: ich werde leben! Gott mit mir!
Geb't mir zur Reise um die Welt den Stab,
Den Glauben ihn allein nehm' ich mit mir.
Und überall verkünd' ich Gottes Wort,
Ein Weltalls-Prediger, bewährt durch Tat,
Als Glaubensbild weil' ich an jedem Ort,
Ein Gottesbild und der Völker Rat.
Hier steht das Mißgeschick, doch dicht der Glaube,
Dort steht das irdsche Glück, mit ihm das Nichts
Hier bist Du jedem irdschen Schmerz zum Raube,
Allein Du bleibst ein Sohn des ew'gen Lichts !