Friederike Kempner

Das Wunderlieb (Friederike Kempner)

Das Wunderlieb

oder die Bucht in Möckelsdorf

           

Tief unten zwischen Bergen,

Da liegt ein Fischerkahn,

Den lenkt das Wundermädchen,

Die's Vielen angetan.

Ihr Aug' so blau und stürmisch,

Wie aufgeregte Flut,

Halb traurig und halb schaurig

Still auf der Gegend ruht.

Der braunen Flechten Länge,

So groß wie Schilf im Fluß,

Drauf, – sagt man, – drückt die Nixe

Allnächtlich einen Kuß.

Den Strohhut auf den Haaren,

Das Ruder in der Hand,

So fährt sie auf und nieder,

Doch niemals bis an's Land.

Die Tränen in den Augen

Der Jungfrau sind erstarrt,

Und ihre weißen Arme

Sind Marmor, kalt und hart.

Den Jüngling faßt Entsetzen:

Das Wunderliebchen fein,

Der Nachen samt dem Ruder

Und alles ist von Stein. –

Es dunkelt auf den Bergen,

Des Fischerkahn's Gestalt

Samt Jüngling und samt Jungfrau

Umschlingt die Tiefe bald.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-88221-802-9
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Matthes & Seitz Verlag