Frank Wedekind

Die sechzig Zeilen oder Die sieben Worte (Frank Wedekind)

       I

Ich, der ich Ich bin,

Der Allgewaltige,

Ich bin der Verborgene,

Der dich zu seiner

Lust geschaffen hat.

Denn meine Freuden

Sind deine Schmerzen,

Denn mein Leben

Ist dein Tod.

II

Dein Eigen sollst du nicht nennen,

Nicht Erde, nicht Feuer, nicht Wasser,

Nicht Pferd, nicht Hund,

Nicht Vater, nicht Mutter,

Nicht Mann, nicht Weib, nicht Kind.

III

Deine Jagd nach Beute

Sollst du nicht Arbeit schmähn,

Denn besser, dem Jäger

Fehle die Beute,

Als daß sich der Jäger

Erjagen läßt

Und er genährt werde

Um seiner Arbeit willen.

IV

Züchtige den Körper nicht

Um der Seele willen,

Um des Körpers willen jedoch

Züchtige die Seele.

Denn deine Seele fürchte

Den seelischen Schmerz.

Deines Körpers Schmerzen aber

Sind deine herrlichsten Opfer.

V

Ich, der ich Ich bin,

Ich schuf den Menschen,

Damit er stirbt.

Ich, der ich Ich bin,

Schenkte dir Wollust,

Auf daß du den Tod

Nicht fürchtest,

Der du an deinem Tod

Deine Wollust sättigest.

Wehe dem, der seine Wollust

Sättigt an schlechterer Kost.

Er wird in der Dunkelheit

In Fäulnis zergehn.

VI

Halte die Spiele

Der Kinder heilig

Und störe sie nicht.

Denn in ihnen ist weder

Torheit noch Müßiggang.

VII

Du sollst nicht in Wollust lieben,

Sondern in Kraft

Und Selbstgefühl.

Du sollst nicht im Dunkeln lieben,

Sondern im Licht.

Wehe der Liebe,

Die an den Blicken

Der Menschen stirbt.

Denn wie deine Liebe,

So deine Kinder.

Wer aber im Dunkeln liebt,

Der lebt auch im Dunkeln.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-008578-0
Erschienen im Buch "Gedichte und Lieder"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.