Ferdinand Freiligrath

Die seidne Schnur (Ferdinand Freiligrath)

(Aus "Gedichte", 1838)

1.

                 

Im Harem weilt der Großwesir;

Mit Dolch und Flinte vor der Tür

Steht Wache haltend der Arnaut;

Auf eines Tigers bunter Haut

Liegt der Gebieter. - Schleierlos,

Kein Gurt umfängt den vollen Schoß;

Aus Purpurfalten glänzt wie Schnee

Ihr Fuß mit ringgeschmückter Zeh';

Entfesselt rollt ihr Haupthaar hin -

Ruht schlummernd die Zirkassierin

An seiner Brust! Vom Kaukasus

Der Demant glänzt am Bosporus.

Sein Auge glüht; sein Barthaar wallt

Auf die wollüstige Gestalt.

Sie träumt; sie lächelt; der Email

Der Zähne glänzt! - »Birgt dein Serail,

Soliman, solch ein Weib?« - Er sinkt

Zu ihr hinab, brünstig umschlingt

Er sie, berauscht von ihrem Hauch,

Von Moschusduft und Ambrarauch.

2.

»Ein Reitertrupp! - der Aga der

Eunuchen, Jussuf!« - »Bringt ihn her!« -

Jussuf, der Neger aus Dar Fur,

Reicht grinsend ihm - die seidne Schnur.

3.

Wie die Oase der Samum

Versengt, gleichwie das Opium

Betäubt, wie gift'gen Hauchs die Pest

Hinwirft und ihren Raub nicht läßt:

So treffen des Verschnittnen Worte

Den Großwesir der hohen Pforte.

Sein Mund wird blau, sein Antlitz fahl,

In Stücke reißt er seinen Schal.

»Daß dich des Blitzes Glut versehrt,

O Maulbeerbaum, der du genährt

Den Wurm, der diese Seide spann!

Verdorren soll die Hand dem Mann,

Der knechtisch diese Schnur gedreht,

Die - von Roßschweifen einst umweht!

An Leilas - meine Zeit ist um!

Das Schicksal will es! - Opium!

Ha, daß mich kein Rhodiser Spieß

Im Handgemenge jäh durchstieß!

Ha, daß mich nicht im goldnen Mörser

Zerstampfte der siegtrunkne Perser!

Ich ward verschont! - der Strang von Seide

War mir bestimmt!« - er sinnt; der Scheide

Nimmt er den Dolch; hin fliegt die Schnur

Auf des Gemaches Teppichflur.

Sie zuckt empor; sie will entfliehn;

Die Haare - sie erdrosselt ihn!

Um seinen Mund spielt gräßlich Lächeln,

Dumpf durchs Gemach schallt beider Röcheln.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3 15 004911 3
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.