Eduard Mörike

An Karl Mayer (Eduard Mörike)

Dem gefangenen, betruebten Manne

Hinter seinen dichten Eisenstaeben,

Wenn ihm jemand deine holden Lieder

Aufs Gesimse seines Fensters legte,

Wo die liebe Sonne sich ein Stuendlein

Taeglich einstellt, handbreit nur ein Streifchen:

O wie schimmerten ihm Wald und Auen

Sommerlich, die stillen Wiesengruende!

O wie hastig irrten seine Schritte

Durch die tausend Lieblichkeiten alle,

Ohne Wahl, was er zuerst begruesse:

Ob das Doerflein in der Sonntagfruehe,

Wo die frische Dirne sich im Gaertchen

Einen Busenstrauss zur Kirche holet;

Ob die Truemmer, wo das Laub der Birke

Herbstlich rieselt aufs Gestein hernieder,

Drueberhin der Weih im Fluge schreiend;

Und den See dort einsam in der Wildnis,

Uebergruent von lichten Wasserlinsen.

Waer ich, waer ich selber der Gefangne!

Sperrten sie mich ein auf sieben Monde!

Herzlich wollt ich dann des Schliessers lachen,

Wenn er dreifach meine Tuer verschloesse,

Mich allein mit meinem Buechlein lassend.

Sieh, so seltsam sind des Herzens Wuensche,

Das sich muessig fuehlt im Ueberflusse.