Detlev von Liliencron

Das Paradies (Detlev von Liliencron)

»So viel Vöglein als da fliegen

So da hin und wieder fliegen.«

 

       

               

In meinem Fenster lag ich um vier Uhr,

Glock vier an einem Himmelssommermorgen.

Der breite braune Graben, der das Schloß

Umringt und schützt vor jedem Überfall,

Gähnt unter mir, erwacht aus Nacht und Nebel.

Schon blitzen über seine Fläche fort

Die blanken schlanken Schwalben; und Libellen

Ruhn ihre zitternden Flügel aus im Schilf.

Weit aus dem Park klingt gülio giliaio

Des Pirols Ruf in hohen Gartenbäumen;

Wie gelb und schwarze Bälle gaukelt er.

Mir gegenüber, dicht am Wasserrand,

Biegt sich, umtanzt von weißen Schmetterlingen,

Von Lilalocken völlig überbürdet,

Mit seinen Blüten ein Syringenbusch:

Kommt, kommt, und pflückt mich doch! Kommt keiner her,

Um meiner Liebe Prangen zu bewundern?

Nicht fern davon steht eine Enakseiche,

Die ihre jung grüngoldigen Blätter sträubt.

Und zwischen Eiche und Syringenbusch

Erscheint gemach, aus tiefen Schatten patschend,

Ein Löwenpaar. Ein Zicklein »weiß wie Schnee«

Umspringt es wie ein Hund, der seinen Herrn

Nach langer Trennung endlich wieder sah.

Die beiden Löwen legen sich ins Gras,

Wo der Syringenbusch sein Pfingstfest feiert.

Das gelbe Fell, die dunkle Zottelmähne

Sind überwölbt vom Lilablütenrausch.

Ein Fleck von kleinen brennend roten Blumen

Lauscht zu mir her aus einem Wiesenstück.

Es ist ganz still. Die Sonne schwitzt und schweigt.

Die Vögel, »so da hin und wieder fliegen«,

Machen im Fluge nur ein zart Geräusch,

Wenn sie bei meinem Ohr vorüberschießen.

Wo bin ich denn? Ach so: im Paradies.

Neulich fuhr sie zum erstenmal ins Leben

Und kam dabei durch eine kleine Stadt.

Da war in einem Biergarten viel Lärm:

Geschart auf Bänken, die sich fast verwachsen,

Sitzt, eng gedrängt, all-alles durcheinander:

Weiber und Männer, die zuviel getrunken

Und nun mit wildestem Gejohle jubeln,

Skatmenschen, denen aus den dicken Knöcheln

Das Blut schier rinnt vom harten Tischaufschlagen,

Dampfende Mädchen, die vom Tanzsaal kommen,

Wo ein entsetzliches Klavier berserkert.

Ein Klub erscheint, der Klub »Klein Veilchen du«:

Voran ein Mann mit langem grauem Bart,

Der würdevoll in seinem schwarzen Gürtel,

Mit finstrer Augenbrau', geschwellter Brust,

Ein Banner hochhehr trägt: Klein Veilchen du.

Die Quasten halten ernste Jünglinge.

Jetzt stimmt der Sängerchor des lieben Klubs

Gesang an: »Wenn die Eichenwälder rauschen.«

Gelächter, Raufen, Saufen, Kreischen, Grölen -

Da fährt der Wagen mit Prinzeß vorbei.

Sie sieht mit großen, staunend großen Augen

Den Wirrwarr an. Er scheint ihr zu gefallen.

Sie klatscht in ihre Händchen und ruft selig:

Le grand jardin, oh, c'est le paradis!

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3 15 007694 3
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.