August von Platen

Lebensstimmung (August von Platen)

           

»Wem dein wachsender Schmerz Busen und Geist beklemmt

Als Vorbote des Tods, bitterer Menschenhaß,

    Dem blühn der Gesang, die Tänze,

        Die Gelage der Jugend nicht!

Sein Zeitalter und er scheiden sich feindlich ab,

Ihm mißfällt, was erfreut Tausende, während er

    Scharfsichtige, finstre Blicke

        In die Seele der Toren wirft.

Weh ihm, wenn die Natur zarteren Bau vielleicht,

Bildungsreicheren lieh seinem Gehör, um durch

    Kunstvolle Musik der Worte

        Zu verewigen jede Pein!

Wenn unreifes Geschwätz oder Verleumdung ihn

Kleinlichst foltert, und er, welchen der Pöbel höhnt,

    Nicht ohne geheimes Knirschen

        Unerträgliche Qual erträgt:

Wenn Wahrheiten er denkt, die er verschweigen muß,

Wenn Wahnsinn dem Verstand schmiedet ein ehrnes Joch,

    Wenn Schwäche des Starken Geißel

        Wie ein heiliges Zepter küßt:

Ob zwei Seelen es gibt, welche sich ganz verstehn?

Wer antwortet? Der Mensch forsche dem Rätsel nach,

    Gleichstimmige Menschen suchend,

        Bis er stirbt, bis er sucht und stirbt.

Verfügbare Informationen:
ISBN: 3-15-000291-5
Erschienen im Buch "Gedichte"
Herausgeber: Philipp Reclam jun.